Es ist schon ein bisschen ein seltsames Gefühl, als die Fähre in Deutschland ablegt. Ein Jahr lang werde ich keinen deutschen Boden mehr betreten. Den Boden, auf dem mein Zuhause liegt. Und wenn ich zurückkomme, werde ich eine ganz andere sein. (Wie Bilbo aus dem Hobbit-Film). Trotzdem habe ich Bock auf dieses Jahr. Ich will raus, ich will mehr.
Abschied und neues Abenteuer
Nach einem schönen Urlaub in Schweden mit meiner Familie kommen wir dann am 2. September im Stiftelsen Berget an. Nach einer kurzen Geländeführung durch meine Mentorin Kristina, die wir nach etwas Suchen in ihrem Büro gefunden haben, ist gerade noch Zeit, mein neues Zimmer zu beziehen, bevor es zum Mittagsgebet und danach zum "Dinner", wie Kristina das Mittagessen nennt, geht. Gegen 14:00 Uhr muss ich mich dann endgültig für 10 Monate von meiner lieben (und sehr lauten) Familie verabschieden.
Die ersten 15 Stunden
Nach einem ersten kurzen Waldspaziergang komme ich in mein leises, weißes (und kaltes) Zimmer zurück. Hier ist es völlig anders als Zuhause, wo immer jemand am Klavier sitzt – normalerweise übt noch parallel jemand dazu Geige, Schlagzeug oder Gitarre. Und jetzt diese Stille. Abgesehen von dem Quietschen der Schränke ist es hier wirklich völlig ruhig. Und ab und zu hört man die Lüftung oder vorbeifahrende Autos auf der Straße – was genau hab ich noch nicht herausgefunden. Im schönsten Fleckchen Licht sitzt eine Spinne auf der Decke. Vermutlich haben wir die vorhin aus der Lüftungskammer verscheucht, als wir die Koffer da eingeräumt haben. Es war die Lüftung. Und ich hab den Schalter gefunden, wie man sie ausstellt, jetzt ist es hier zumindest gefühlt ein bisschen wärmer.
Ein Ort der Stille
Es ist mein erster Abend in Rättvik. Ich sitze in meinem Bett, gehüllt in mindestens drei Wolldecken, weil einem überall sonst die Füße abfrieren würden. Und krank werden, so kurz nachdem ich angekommen bin, will ich ja auch nicht.
Die Stille im Stiftelsen Berget beginnt schon langsam, sich in mein Herz vorzutasten. Eigentlich gar nicht so fern von der restlichen Welt hat die Gemeinschaft hier mit viel Gebet (viermal täglich Appell in der Kapelle und dann noch jeden Morgen Messe) einen Platz der Ruhe und des Friedens geschaffen, wo man lernt, tief in sich zu ruhen, das Gewusel des Alltags fallen zu lassen und einfach zu sein. Sich von Gott lieben zu lassen, und ihn anzubeten. Nicht mit großen Lichtershows und Lobpreis, wo alle in Scharen auf den Boden fallen, sondern einfach schwedische Rezitative, ganz viele Psalmen, von denen ich fast nichts verstehe. Kurze Bibelverse, die ich noch weniger verstehe. Und hinter allem diese Ruhe.
Außenrum der Wald. Einfach wunderschön schwedisch – ist man zehn Schritte weiter, scheint man schon in einer komplett anderen Welt zu sein – mal lichte Birkenwäldchen mit vielen hellbemoosten Steinen, dann dichtes Tannengeäst, später Preiselbeersträucher rot von Beeren, undefinierbares Buschzeug und große Grasbüschel, zwischen denen sich Pfützen bilden.
Die Spinne von der Decke ist verschwunden. Hoffentlich zurück in die Lüftungskammer, aber nicht in meinen Koffer, ich hab was dagegen, da drinnen im Dezember auf das "Spinnenimperium" zu treffen.
Es ist nicht nur der Wald. Es ist der Ort hier, und die Menschen. Alle sind so freundlich, offen, lächeln, gehen auf einen zu – einfach so lieb, so offen und freundlich. Hier darf man einfach sein. Das ist nicht wirklich wachsen, nicht zu sich selber finden, nur alles, was mir aufgeklebt wurde oder ich mir aufgeklebt habe, Aufkleber sein lassen.
Spinnen Update
Ich hab die Spinne gefunden. Sie saß auf einmal auf meinem Zeigefinger. Ich hab sie auf den Gang verbannt, hoffentlich bleibt sie da auch.
Umgebung entdecken
Langsam kenne ich meine Wege hier herum. Heute früh hat mir Kristina nochmal eine Häuserführung gegeben, danach hab ich erstmal eine Runde Bratsche und Klavier auf dem alten E-Piano hier gespielt. Dass ich hier trotz der Stille die Möglichkeit dazu habe, ist einfach super – sonst würde ich die Musik aus ganzem Herzen vermissen. Nachmittags hab ich meine erste Tour nach Rättvik gemacht. Den perfekten Weg dorthin hab ich noch nicht gefunden. Hinwärts bin ich auf der kleineren Straße auf der Seeseite des "Riksvägs" gelaufen, heimwärts mich im Wald verirrt.
Aber die Fußgängerzone dort ist perfekt: Coop (Supermarkt) mit allem, was man sich nur denken kann (außer Skiunterwäsche, aber gegenüber ist ein Kleidergeschäft, wo es die bestimmt auch gibt) und direkt gegenüber eine Bücherei mit den besten Büchern, tollen Puzzles und wunderschönen Schreibbüchern.
7. September: Gestern Abend waren meine Mitpraktikantin Caitlin und ich noch spontan in einem Gospelkonzert in "Rättviks kyrka" (Kirche), wunderschön am See gelegen. Jeden Sonntag gehe ich dort in den evangelischen Gottesdienst, da freue ich mich immer schon die ganze Woche drauf, weil es mir als Protestantin in Berget manchmal schon ein bisschen zu katholisch ist.
Jetzt kann nichts mehr schief gehen
Jetzt ist es mehr als eine Woche her, dass ich hier angekommen bin. Zuhause beginnt heute die Schule – das ist schon ein seltsames Gefühl, dass ich jetzt hier bin und nicht dort. Gestern hab ich mir einen Bibliotheksausweis erstellen lassen, jetzt kann hier wirklich nichts mehr schief gehen. Bis um 11:00 Uhr die Bücherei aufgemacht hat, saß ich am Steg, habe die Sonne immer weiterwandern sehen, bis ihre Strahlen mich endlich auch erreicht hatten, und habe Handschuhe gestrickt (ich hatte meine nämlich vergessen). Langsam hab ich auch einen Plan, was ich bei den Küchendiensten zu tun habe und was wohin gehört. Natürlich noch nicht ganz, aber es ist schon ein großer Fortschritt von allen Schränken aufreißen, um dann rauszufinden, dass der Löffel eigentlich auf die Arbeitsfläche gehört. Nachdem die letzten fünf Tage wunderschönes Wetter mit Temperaturen von über 20°C war, regnet es heute wieder.
Ein kleiner Meilenstein
Der erste Monat hier in Rättvik ist fast vorbei – es fühlt sich noch gar nicht so lange an, die Zeit ist wirklich verflogen. Aber rückblickend ist trotzdem sehr viel passiert. Nach der Eingewöhnungsphase, die ich ja oben schön eingefangen habe, war die erste besondere Aktion die Gartenernte am "Medarbeterdag" (Mitarbeitertag). Da haben meine Mitpraktikantin Caitlin, Kristina und ich alle restlichen Zucchini, Kürbisse, Erbsen, Brokkoli, Dill und was da sonst noch alles so wuchs, abgeerntet. Das war zwar harte Arbeit, hat aber trotzdem viel Spaß gemacht. Das Meiste davon ist für den Winter eingefroren, aber an den Zucchinis essen wir immer noch.
Und dann war unser Bad auf einmal verstopft! Nach zwei Tagen kam der Klempner und dann ging auch alles wieder, das Problem war nur, dass der Boden danach dreckig und so 10 cm tief unter Wasser stand. Und da wir natürlich keinen Abfluss im Bad haben, durften wir das dann mit den Küchenmessbechern abschöpfen. Zwei Stunden saßen wir da bestimmt dran, aber mit ein bisschen Taylor Swift (1989) im Hintergrund haben wir das auch überlebt.
Da das Bad aber generell seit 1962 sicher nie renoviert und selten geputzt wurde, haben wir uns ein paar Tage später daran gemacht, es mit alter Acrylfarbe und Wachsmalstiften, die wir in einem alten Regal gefunden haben, zu verschönern. Jetzt zieren Efeuranken und Glockenblumen die Wände und man freut sich jedes Mal wieder, wenn man es betritt.
So ein gelegentlicher Spaziergang zum See Siljan ist natürlich auch immer ein Highlight – einmal habe ich zum Beispiel eineinhalb Stunden lang den Sonnenuntergang gefilmt, einmal war um 12:00 Uhr mittags immer noch alles in dichten Nebel gehüllt und dann bin ich im kaum sichtbaren See schwimmen gegangen. Das war eiskalt, aber schon echt geil. Ende September konnte ich mir auch nicht nehmen, einmal im Wald zu übernachten. Das war auch viel zu kalt und dann hat es auch noch geregnet, aber mit meiner netten Reisekerze und vielen Wollsocken und Pullis hatte ich da auch meinen Spaß dabei.
Und zu guter Letzt waren wir noch mit Susanne, einer anderen deutschen Volontärin und ihrem Mann Tim, im "Carl Larssons Haus" bei Falun. Das war einfach unglaublich – die beiden Künstler haben Türen und Wände bemalt, Wandbehänge selber entworfen und gewebt und das Haus zu einem Kunstwerk in sich gemacht.
Alles in Allem bin ich sehr froh, hier zu sein. Ich habe mich gut eingelebt und bin sehr dankbar für die Offenheit und Liebe, mit der ich hier empfangen wurde und die die Gemeinschaft hier einfach auszeichnet.