Ein Jahr soll das Ganze also schon her sein. Unser Vorbereitungstreffen in Paderborn, das Kofferpacken, das Abschiednehmen vom Leben in Deutschland. Man sagt, die Zeit vergehe wie im Flug, wenn man Spaß hat und es einem gut geht - und mein Jahr in Oslo hat sich sicherlich nicht wie ein ganzes Jahr angefühlt. Neue Freunde und viele wunderbare Erlebnisse haben es zu einer besonderen Zeit gemacht, in der ich wahrscheinlich so viel gelernt und erlebt habe, wie in den 19 Lebensjahren zuvor.
Katholischste Gasse in Norwegen
Die Akersveien in Oslo ist eine eher unscheinbare Gasse in Oslo. Nur 200 Meter weiter westlich ziehen sich die großen Geschäftsstraßen durch die norwegische Hauptstadt, etwa 200 Schritte südlich von ihr erinnert das Mahnmal an jenen bitteren 22. Juli 2011, als die Blutspur eines Attentäters das Land erschütterte. Die Akersveien erwacht vor allem sonntagvormittags zum Leben, wenn hier im Stundentakt Katholiken zu ihren Gottesdiensten gehen. Die Gasse ist die wohl katholischste im ganzen Land: Hier arbeitet zum Beispiel Bischof Bernt Eidsvig und fast alle katholischen Institutionen haben hier ihren Sitz. Die katholische Kirche in Norwegen ist klein, aber sie wächst. Und um die Vielfalt an Arbeiten im sozialen und kirchlichen Bereich zu unterstützen kommen alljährlich Helfer - so wie ich.
Wandelndes Wörterbuch für die Schüler
In der Akersveien steht neben dem Priesterseminar und einer katholischen Buchhandlung auch die Schule St. Sunniva. Die Schule unterrichtet 540 Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse. Montags und donnerstags stand dort auch für mich Unterricht auf dem Plan. In drei verschiedenen Klassen half ich den Deutschunterricht zu gestalten, war neben Assistenz für den Lehrer auch ein wandelndes Wörterbuch für die Schüler. Ich beantwortete Fragen wie „Klara, heißt es der oder das Bach?“ und „Når har vi storefri?“. Die Arbeit in der Schule gab mir tiefe Einblicke in Lernmethoden und Inhalte, die ganz andere Akzente setzen als in Deutschland: die Themen sind praxisorientierter strukturiert, die Atmosphäre im Klassenzimmer familiärer - aber auch zuweilen chaotischer.
Kloster, NUK und St. Johannes
Dienstags übernahm ich praktische Aufgaben im Kloster und sah, dass meine Hilfe ankommt: wenn ich die Toiletten nicht putze, das Geschirr nicht spüle - wer dann?
Doch der nächste Tag sah schon wieder anders aus: Im Büro der katholischen Jugendorganisation NUK (Norges Unge Katolikker) kümmerte ich mich um die Sozialen Netzwerke des Verbands oder half Zeltlager und Themenabende zu organisieren. Das Büro befindet sich – natürlich – auf den Akersveien.
Mein persönliches Wochenhighlight war jedoch freitags, wenn ich zur katholischen Kirchengemeinde St. Johannes nach Rødvet, eine halbe Metrostunde im Norden der Hauptstadt, fuhr. Dort herrscht ein reges Gemeindeleben, es sind vor allem Vietnamesen, die sich dort freitags zum Gottesdienst und zu gemeinsamem Mittagessen treffen. Die Büroarbeit macht mir Spaß, die Menschen dort habe ich sehr ins Herz geschlossen.
Ein Kloster - umrahmt von Villen und Botschaften
Es ist nur eine kleine Anzahl an Menschen in Norwegen, die sich katholisch nennen. Katholiken sind eine kleine Minderheit und die Gemeinschaft ist bunt zusammen-gewürfelt aus den unterschiedlichsten Kulturen und Ländern. Genau das macht den Ort, den ich zehn Monate mein Zuhause nennen durfte, so besonders. Das Dominikanerinnenkloster Sta. Katarinahjemmet liegt mitten in Majorstuen, unweit der Einkaufsstraße Bogstadveien. Obwohl die katholische Kirche keinen großen Platz in der Gesellschaft hat, ist sie hier mitten in der Stadt angesiedelt. Das Katarinahjemmet beherbergt ein Gästehaus mit Räumen für Tagungen und rund 20 Zimmern, die für Studentinnen und Schülerinnen zur Miete zur Verfügung stehen. Es ist eine ausnehmend attraktive Adresse: Majorstuen ist das großbürgerlichte Viertel, hier stehen elegante Villen, atemberaubende Wohnhäuser und es verwundert nicht, dass viele Staaten ihre Botschaften hier angesiedelt haben.
Freitag ist kein "Frei-Tag"
Eine meiner Zimmernachbarinnen, die direkt gegenüber in meinem Flur wohnt, war Schwester Mette. Die 80-Jährige ist eine wirklich „feine Dame“. Sie legt großen Wert auf gepflegtes Äußeres, hat ihre weißen Haare stets geschickt frisiert und egal wann man sie trifft, umweht eine „besondere Aura“ die Ordensschwester – gleichzeitig vornehm und zugewandt. Schwester Mette hat eine bewegte Lebensgeschichte und immer etwas zu erzählen. Zum Beispiel von ihrem Leben in Paris, dem Übertritt zum Katholizismus während ihres Studiums oder von ihrer Kindheit im Osloer Stadtteil Frogner. Und sie erzählte gern. „Freitag ist kein Frei-Tag“ sagte sie gern verschmitzt lächelnd und lud nachmittags zur Norsktimer, wo sie mir einen unvergleichlichen Norwegisch-Unterricht gab.
"Papa der Gemeinde"
Freitags standen aber auch die Treffen mit Pater Bharat in St. Johannes an. Ein beeindruckender Mensch. Der singhalesische Priester der katholischen Kirchengemeinde St. Johannes ist sympathisch, offen, herzlich und abgeklärt. Als „Papa der Gemeinde“ erwärmt er mit seinen Gesangseinlagen auf Weihnachtsfeiern und Geburtstagsfesten die Herzen der so verschiedenen, internationalen Mitglieder. Er ist stets offen für das Gespräch und fährt spontan Umwege, um junge Helfer nach Hause zu bringen. „Er wäre ein perfekter Schwiegersohn“, schwärmte zum Beispiel eine Frau aus der Gemeinde lachend.
Die katholische Kirche in Norwegen besteht zu großem Teil aus Einwanderern, zum Beispiel aus Vietnam, Polen oder den Philippinen. Die Gemeinde St. Johannes macht da keine Ausnahme. St. Johannes ist, auch dank Pater Bharat, eine kleine Insel des Glücks, auf der die Welt noch in Ordnung zu sein scheint.
Grünerløkka: Treffpunkt der jungen Leute
In diese Oase wurde Edvard hineingeboren. Der heute 25-Jährige wurde katholisch erzogen, konfirmiert und ging regelmäßig in die Messe- bis in seinen Teenagerjahren die Zweifel zu groß, die Zwänge und Eigenheiten der katholischen Kirche zu stark wurden und er endgültig austrat. Ich lernte Edvard in einer Bar im Szeneviertel Grünerløkka kennen, unsere gemeinsame Bekanntschaft, Pater Bharat, wurde uns erst später bewusst. Grünerløkka wird bevölkert von jungen Familien und Studenten, kleinen Cafés, Boutiquen und Konzertbühnen. Edvard eröffnete mir ganz neue Seiten von Oslo. Grønland, Tøyen, Sofienberg - das junge, alternative Oslo. Studenten und junge Linke diskutieren hier über die neuen Filme des Arthouse-Kinos Cinemateket, man tauscht sich über Mode oder Musik aus. „Es gibt viele Kunstgalerien hier, Vintage- Modeläden oder Discotheken. Aber man bekommt hier auch einen billigen Döner beim Türken oder zahlt in der Markthalle ganz wenig für ausländische Gewürze, Früchte oder andere Delikatessen,“ erzählt auch Ludvig, ein Musikjournalist für „Natt & Dag“. Solche Bekanntschaften und enge Freundschaften sind andere Schätze, die ich aus meiner Zeit in Oslo mitnehme.
Danke, Antonia
Gerade meine Mitpraktikantin Antonia hat nach den 10 Monaten, die wir zusammen verbracht haben, für immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen.
Das liegt mit Sicherheit auch an den vielen Geschichten, die wir zusammen erzählen können: Etwa jene in der Nacht vor Heiligabend, als wir auf der Bahnfahrt nach Schweden zur gemeinsamen Weihnachtsfeier mit den anderen Bonifatiuswerk-Praktikanten im Gestrüpp des Fernverkehrs strandeten. Viele Nachtstunden verbrachten wir in Bummelzügen und schließlich bei bitterer Kälte von 3 bis 6 Uhr auf einer Parkbank in Linköping, um auf den nächsten Anschluss zu warten. Oder die vielen (böse Zungen sagen: zu viele) nächtlichen Spaziergänge zum Supermarkt um die Ecke, um Süßigkeiten zu kaufen. Oder vom gemeinsamen Abwasch beim Abendessen, um jedes Mal eine neue Bestzeit aufzustellen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich meine Erlebnisse in Oslo mit einem so tollen Menschen teilen durfte. Mein Freiwilligendienst wäre ohne sie niemals der gleiche gewesen.
Große Kunst in der Nachbarschaft
Ein weiteres unserer regelmäßigen Abenteuer, zu denen mich Antonia (zugegebenermaßen nicht immer zu meiner Freude („Es ist zu kalt/heiß/spät/früh!“, „Ich bin müde/hungrig/beschäftigt.“) stets überreden konnte, waren unsere Spaziergänge.
Meistens führten sie uns durch die Straßen Majorstuens oder den nahe gelegenen Frogner-Park. Nicht jeder mag sich auf den ersten Blick mit den teils monströsen, teils hyperrealistisch, immer jedoch anmutig dargestellten Leibern und Körpern anfreunden. Aber was der Künstler Gustav Vigeland in den Jahren 1907 bis 1942 geschaffen hat, übt heue Faszination zu jeder Jahreszeit aus. Schneebedeckt im Winter oder im grellen Sonnenlicht der Sommerhitze ist der Frogner-Park ein anregendes Idyll, ein wunderbares Szenario zum Nachdenken, Lesen oder Plaudern mit Freunden. Majorstuen war somit einer der Plätze, an denen ich wohl den größten Teil meiner Freizeit verbrachte, die Statuen im Vigelandsparken habe ich hunderte Male schon angeschaut, die riesigen Anwesen der internationalen Botschaften bestaunt.
Das Leben in Majorstuen hat für mich einen besonders große Bedeutung. Auch, weil ich eine besondere Beziehung zu den Straßen in Frogner habe: mein leider bereits verstorbener Großvater war hier aufgewachsen – vor rund 90 Jahren. Er war Norweger, hat in Deutschland studiert und ist zusammen mit meiner deutschen Großmutter später noch einmal für einige Zeit nach Oslo gezogen. Zu wissen, dass ich dort wohne, einkaufe, spazieren gehe, wo schon meine Großeltern 60 Jahre zuvor gelebt haben, gab meinem Aufenthalt eine schöne, persönliche Note.
Reise zu wunderschönen Orten
Aber natürlich waren wir nicht nur in Majorstuen und Oslo. Die absoluten Highlights meines Freiwilligendienstes waren die Ausflüge, die wir mit unserer Mentoren Schwester Ane - Elisabeth gemacht haben. Zusammen mit den anderen Freiwilligen waren wir zum Beispiel in Hamar, Tønsberg oder Stavern und Larvik. Die größte dieser Reisen führte uns nach Kristiansund. Wir fuhren über den Dovrefjell - Nationalpark und durch das Gudbrandstal und sahen auf dem Rückweg die Atlantahavsveien, eine Straße im Romsdal, die als eine der schönsten Strecken für einen Roadtrip gekürt wurde. Die Fahrt nach Kristianssund war aber nicht nur wegen der attraktiven Landschaft besonders. Auch der Grund der Reise war bemerkenswert: Nora, eine Studentin, die im Katarinahjemmet ein Zimmer gemietet hat, ist evangelisch getauft worden, hat sich jedoch dazu entschlossen, zum Katholizismus zu konvertieren. Die Feier ihrer Konfirmation fand im familiären Rahmen in Kristianssund statt - und auch wir Freiwilligen waren zu dem besonderen Feiertag eingeladen. Bilder und Erlebnisse eines Jahres, das man auch nach Jahren nicht vergisst.
Rückblickend ...
Meine Zeit in Norwegen hat mich unglaublich bereichert. Ich habe viel gelacht und manchmal auch geweint, abgewaschen und geputzt, war wandern und schwimmen, habe Bekanntschaften gemacht und innige Freundschaften geschlossen. Ich habe nicht nur eine neue Sprache gelernt, sondern auch viel über mich, meine Werte und meinen Glauben. Ich bin sehr dankbar, für alle Menschen, die mich während diesem Jahr begleitet haben: Allen voran meine Mentorin vor Ort, Schwester Ane-Elisabeth, eine wirklich tolle Frau, die mich mit ihrem leidenschaftlichen Glauben und ihrer unfassbaren Hingabe zu Gott tief beeindruckt hat. Dankbar bin ich auch für die Unterstützung des Bonifatiuswerks, das diese großartige Zeit erst möglich machte und für die Projektkoordinatorinnen Julia Jesse und Ricarda Clasen, die immer mit Rat und Tat zur Seite standen.